Die Sache mit der Zeitrichtigkeit

  • Da das Thema gerade wieder aufkam und immer wieder Dinge vermischt werden, möchte ich einmal kurz anreißen, was es bei Lautsprecher mit dem Zeitverhalten auf sich hat. :)


    Es gibt zwei zeitliche Aspekte an einem Lautsprecher:


    1. die Phasendrehung durch die Frequenzweiche (Hoch-/Tiefpass) und die natürlichen Flanken der Treiber
    2. die Laufzeitunterschiede zwischen den Schallentstehungsorten (SEO) der Treiber

    Beide Phänomene haben unterschiedliche Ursachen und wirken sich auf den komplexen Frequenzgang und damit auch auf die Impuls-/Sprungantwort aus.



    Phasendrehungen


    Phasendrehungen sind frequenzabhängige Verzögerungen. Die Phasendrehungen der Frequenzweiche können je nach Flankensteilheit die Impulsantwort extrem stark deformieren. Man erkennt den Dirac-Impuls danach quasi nicht mehr wieder, selbst wenn die Zweige untereinander die korrekten Laufzeiten besitzen. Hier mal die Übertragungsfunktionen der Frequenzweise eines typischen 3-Wegers. Man sieht den Amplituden- und Phasengang der Filter.


    Tieftöner:


    Mitteltöner:


    Hochtöner:


    Summe:


    Bei der Summe sieht man, dass keinen reine konstruktive Überlagerung stattfindet. Das liegt daran, dass der Mitteltöner zwei Filter besitzt, deren Phasendrehungen noch in den jeweils anderen Bereich wirken. Für eine rein konstruktive Interferenz müsste man den jeweiligen anderen Filter noch zum Tief- und Hochtöner hinzufügen. Das lasse ich hier aber mal weg, da es in der Realität normalerweise auch nicht gemacht wird.


    Die Impulsantwort der Summe sieht dann so aus:


    Das heißt, diese typische Form stammt ausschließlich von den Filtern der Frequenzweiche. Sie tritt also auch auf, wenn die Treiber keine Laufzeitdifferenz zueinander besitzen.


    Phasendrehungen haben die Eigenschaft, dass sie die Gruppenlaufzeit erhöhen. Die Gruppenlaufzeit ist die negative Ableitung des Phasenganges. Je stärker die Phasendrehung, desto höher ist die Gruppenlaufzeit. Wird die Phase per FIR entzerrt, so ist auch gleichzeitig die Gruppenlaufzeit entzerrt. Gleiches gilt für das Abklingspektrum. Es handelt sich im Grunde nur um unterschiedliche Darstellungen derselben Sache, nämlich des komplexen Frequenzgangs.


    Gruppenlaufzeit der Summe:


    Der Phasengang eines Mehrwegers kann per FIR-Filter "über alles" entzerrt werden. Dazu muss man aber sagen, dass das in der Regel nahezu unhörbar ist. Am Rechner kann jeder einen Selbsttest machen. Man braucht nur ein Faltungsplugin für Foobar2000 und kann sich mit rePhase die Kompensationsfilter erzeugen.



    Laufzeitdifferenz


    Eine Laufzeitdifferenz, also eine frequenzneutrale Verzögerung, erzeugt ein anderes Phänomen, nämlich eine Addition, die nicht mehr rein Konstruktiv ist. Diese ist dann im Amplitudengang als Einbruch sichtbar.


    Laufzeitdifferenz von 2 ms (entspricht einer halben Wellenlänge bei 500 Hz):


    Da die Laufzeitdifferenz durch die Addition entsteht, kann sie im Nachhinein nicht entzerrt werden. Man kann zwar den Amplitudengang anheben, wenn die Auslöschung nur partiell ist. Aber das klappt nur unter einem Winkel. Das Abstrahlverhalten lässt sich dadurch nicht entzerren.



    Die Invertierung/Verpolung ist übrigens kein Zeitphänomen, auch wenn sie gerne dazugezählt wird. Sie ändert zwar die Impulsantwort massiv (invertiert sie), erzeugt aber keine Verzögerung.



    Ich hoffe, das bringt etwas Licht ins Dunkel. Fragen sind willkommen! :)

  • Hier noch mal die Impulsantworten der einzelnen Zweige. Ich habe sie bewusst identisch skaliert, um etwas bestimmtes zu zeigen:


    Tieftöner:


    Mitteltöner:


    Hochtöner:


    Summe:



    Warum zeige ich das?


    Es wird ja häufig versucht, etwas in die Impulsantwort zu interpretieren. Das ist aber kaum möglich. Wie man sieht, trägt der Hochtöner mit Abstand den größten Teil zur Form der Impulsantwort bei. Das liegt daran, dass alle Frequenzen gleichgewichtet in die Impulsantwort eingehen (wir nehmen aber logarithmisch wahr). Der Tieftöner deckt gerade mal eine Bandbreite von 480 Hz ab, der Mitteltöner eine von 2.000 Hz und der Hochtöner satte 17.500 Hz. Somit dominiert der Hochtöner die Impulsanwort.


    Noch zerklüfteter wird es, wenn der Hochtöner obenrum noch einen natürlichen Abfall oder Tiefpass hat.


    Hochtöner mit steilem Abfall bei 25.000 Hz.


    Im Grunde kann man aus der Impulsantwort kaum etwas ablesen. Jeglicher Versuch, die einzelnen Wege zu erkennen, ist praktisch zum Scheitern verurteilt. Das geht einfach nicht, weil die Wege in sich schon stark verzerrt und unterschiedlich stark gewichtet sind.

  • Sehr interessant aber nochmal zum Verständnis, was kann man jetzt aus der Differenz der Impulsantwort von Audyssey zu Dirac rauslesen?

    Kann man das klanglich benennen, z.B. präziser oder wie auch immer?


    Danke

  • Sehr interessant aber nochmal zum Verständnis, was kann man jetzt aus der Differenz der Impulsantwort von Audyssey zu Dirac rauslesen?

    Kann man das klanglich benennen, z.B. präziser oder wie auch immer?

    Man kann dort herauslesen, dass Dirac die Phasendrehungen im Mittel- und Hochton kompensiert. Darunter nicht mehr. Das zeigt der Phasengang, den Nilsens freundlicherweise reingestellt hat.


    Klanglich kann man aus der Impulsantwort überhaupt nichts ablesen. Wirklich gar nichts! Es gibt dort nichts, was mit der Wahrnehmung in irgendeiner Form korreliert.


    Die Kompensation der Phasendrehungen muss man selbst mal im Hörtest ausprobiert haben (geht z.B. mit foobar oder diversen FIR-DSPs). Ich habe das vor 15 Jahren schon gemacht und höre den Unterschied bei gängigen Flankensteilheiten bis heute nicht. Das Thema wird meiner Erfahrung nach gnadenlos überschätzt. Die optische "Schönheit" der Impulsantwort hat so wenig mit dem Klang zu tun wie die Farbe eines Autos mit der Maximalgeschwindigkeit. :zwinker2:

  • Man kann dort herauslesen, dass Dirac die Phasendrehungen im Mittel- und Hochton kompensiert. Darunter nicht mehr. Das zeigt der Phasengang, den Nilsens freundlicherweise reingestellt hat.


    Klanglich kann man aus der Impulsantwort überhaupt nichts ablesen. Wirklich gar nichts! Es gibt dort nichts, was mit der Wahrnehmung in irgendeiner Form korreliert.


    Die Kompensation der Phasendrehungen muss man selbst mal im Hörtest ausprobiert haben (geht z.B. mit foobar oder diversen FIR-DSPs). Ich habe das vor 15 Jahren schon gemacht und höre den Unterschied bei gängigen Flankensteilheiten bis heute nicht. Das Thema wird meiner Erfahrung nach gnadenlos überschätzt. Die optische "Schönheit" der Impulsantwort hat so wenig mit dem Klang zu tun wie die Farbe eines Autos mit der Maximalgeschwindigkeit. :zwinker2:

    hm... Hat die Bearbeitung der Zeitebene durch Dirac denn einen Vorteil? Und wenn ja welchen?


    Bin nicht sicher, ob ich das schon verstanden hab...


    Meine Interpretation wäre so: Da wir sehr empfänglich für kleinste Laufzeitunterschiede sind, wirkt sich eine "Begradigung" der Gruppenlaufzeiten positiv auf Klangpräzision des ganzen Systems aus, weil viel weniger einzelne Frequenzbereiche abweichen.

    "Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass, Hass führt zu unsäglichem Leid." (Yoda)

  • Meiner Empfindung nach sind wir noch empfindlicher auf Phasensprünge. Zeitrichtigkeit über die Frequenzen hinweg lässt meiner Erfahrung nach ein gutes Setup noch authentischer und plastischer werden. Jedoch führt es auch dazu, dass man bei gleicher Zielkurve alles oft, als etwas schlanker empfindet (ähnlich wie bei einem DBA). Sprich ohne eine gewisse Einhörungsphase erlebe ich immer mal wieder, dass FIR-korrigierte Systeme für manche als zu dünn oder blutleer / kraftlos empfunden werden oder nicht sofort überzeugen können. Ich habe aber nach wie vor noch den Plan all-over mit einer Faltung über mein System drüber zu gehen, weil mich die Plastizität und Authentizität eines guten FIR-Systems einfach sehr überzeugt. Freunde bauen da schon sehr lange im KFZ mit rum, da ist das Thema noch schwieriger sinnvoll umzusetzen, aber absolut faszinierend. Daher hätte ich an Dirac durchaus auch eine hohe Erwartung, möchte das aber gern manuell anders lösen.

    auch gewerblich als User "Speaker Base" unterwegs

  • Trinnov wirbt auf der Website mit einer animierten Grafik, mit einer fast mit dem Lineal gezogenen Phase.

    Leider zeigen die Trinnov-Besitzer nur den FG, nie den gemessenen Phasenverlauf, wäre echt interessant, wie "perfekt" die Trinnov Einmessung das hin bekommt.


    Meinem Verständnis nach kommen alle Frequenzen, von allen Kanälen auf den Punkt genau am Ohr an, sprich alle Kanäle sind einzeln, wie auch in Kombination zeitrichtig, in Phase.


    Was davon wirklich zu hören ist, schwer zu sagen, wo hat man die Möglichkeit, solch ein perfekt eingestelltes System zu hören....

  • Ich denke das der Phasengang besonders zwischen den Lautsprechern passen muss, so das die Phase bei Stereo aus beiden Lautsprechern in etwa gleich beim Hörer ankommt.


    Ich kann mir vorstellen, das die Bühnenabbildung darunter leidet bzw das unser Gehirn da mehr zu rechnen hat, wenn es eine verkorkste Phase wieder ausgleichen muss.


    Den Unterschied höre ich tonal auch nicht, was ich aber merke ist, das ich weniger Mühe habe der Musik zu folgen und länger am Stück entspannt zuhören kann.


    Bei Heimkino merke ich keinen Unterschied.

  • hm... Hat die Bearbeitung der Zeitebene durch Dirac denn einen Vorteil? Und wenn ja welchen?

    Wie gesagt, das kann jeder selbst testen. Das propagiere ich schon seit 15 Jahren, machen tut es so gut wie keiner. Und ich kann das wirklich nicht nachvollziehen, bei dem überschaubaren Aufwand. :zwinker2:


    Man kann übrigens die Phase auch direkt in der Musikdatei entzerren, wenn man es nicht live im DSP anwenden kann/will. Dann tendiert der Aufwand nahezu gegen Null und man ist nicht auf den Rechner beim Abspielen angewiesen.

    Wer daran wirklich interessiert ist, dem kann ich gerne behilflich sein oder sogar Dateien bearbeiten. Die Kompensationsfilter kann man mit rePhase erzeugen. Die Impulsantwort wird dann mit der FLAC/WAV gefaltet und schon hört ihr eurer System linearphasig.


    Sprich ohne eine gewisse Einhörungsphase erlebe ich immer mal wieder, dass FIR-korrigierte Systeme für manche als zu dünn oder blutleer / kraftlos empfunden werden oder nicht sofort überzeugen können.

    Die Frage ist, was du da genau hörst. "FIR-korrigiert" bedeutet ja nicht, dass nur die Phase entzerrt wurde, sondern in der Regel vor allem auch der Amplitudengang. Mal abgesehen davon, dass ein FIR-Filter auch minimalphasig sein kann (oder ein Mischmasch).


    Wie gesagt, der Selbstversuch mit einer reinen Phasenentzerrung öffnet die Augen. :)

  • Ich denke das der Phasengang besonders zwischen den Lautsprechern passen muss, so das die Phase bei Stereo aus beiden Lautsprechern in etwa gleich beim Hörer ankommt.

    Das definitiv. Aber es ging ja hier bisher um frequenzabhängige Phasendrehungen und nicht um die zwischen zwei Lautsprechern. Das ist aber natürlich ein Thema das für die automatische Einmessung sehr interessant ist.

  • Meine Versuche damit sind auch schon "ewig" her. Damals war das auch gar nicht sooo einfach wie heute zu testen.


    Was ich in reinen Test Setups, z.b. Kopfhörer, erkenne sind Phasendreher bzw. die entsprechende Gruppenlaufzeitfehler, LR filter mit 24dB/Oktave unter 300Hz. Bei 48dB/Oktave bei 300Hz ganz deutlich.

    Hier werden aus perkusiven Ereignissen wie ein "klack" ein "Kl...klack".


    In/an der Anlage mit Lautsprecher und Raum sind diese Unterschiede bei mir aber gegen null geschrumpft. Wurden also wahrscheinlich von anderen Fehlern überlagert.



    Was ich aber ganz sicher sagen kann, dass die optisch "schöne" Sprungantwort oder Impulsantwort keinerlei Bezug zum Klang hat.


    Aber diese Darstellungen werden gerne herangezogen um Eindruck zu schinden. Ob die "Zeitrichtigkeits-Verkünder" das jetzt selbst glauben oder es als Bauernfängerei bewusst ausnutzen weiß ich nicht.


    mfg

  • Vielleicht noch zum Thema Laufzeitdifferenz... Meine aktuellen LS waren anfangs noch mit Passivweiche geplant. Ich habe damals extra Einzelgehäuse je Weg gebaut und den optimalen Versatz dieser zueinander ermittelt um die Laufzeitdifferenz zu kompensieren. Das fertige Gehäuse berücksichtigt diesen Versatz dann in der Schallwand.


    Bringt das was? Ja.


    Würde ich das nochmal machen? Nein.


    Warum? Die negativen Einflüsse durch die Stufen / Schrägen in der Schallwand sind wesentlich größer als die Vorteile durch die SEO-Kompensierung mMn.

  • Ich hatte seinerzeit bei Klein und Hummel die O500 in deren Raum gehört. Die war fir entzerrt. Man konnte von linearphasig auf minimalphasig umschalten. Da konnte man nahezu keinen Unterschied hören. Und den auch nur im Bass. Ob ich das im Blindtest auch noch gekonnt hätte, wage ich zu bezweifeln. Ich bin da voll bei Nils.

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